Ab Drei, Allgemein
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Drei Jahre.

Ich, also wir, haben einen Schwerbehindertenausweis beantragt für unseren Sohn. Wir haben ebenfalls Pflegegeld und, damit verbunden, natürlich eine Pflegestufe beantragt. Nach drei Jahren.

„Hallo. Mein Name ist Jutta und mein jüngstes Kind ist behindert.“ Wir haben tatsächlich ein behindertes Kind.

Nach dem Besuch unserer wirklich netten Beihilfekoordinatorin ( ich weiß gar nicht, ob dies die korrekte Berufsbezeichnung ist ) und dem Gespräch mit unserem Kinderarzt, war ich total hin- und her gerissen. So eindeutig sind seine Handicaps. Keiner von beiden hat überlegen müssen, ob das wirklich „notwendig“ ist oder dem Kleinen und uns wirklich zusteht. Es ist nicht so, dass ich betriebsblind bin und nicht sehe, dass es er in vielen, vielen Dingen nicht das kann, was Dreijährige in der Regel heute können. Aber er passt so gar nicht in das Bild, welches ich von einem behinderten Kind hatte.

Meine Vorstellung von einem Leben mit einem behinderten Kind, haben mit der Realität in der wir jetzt leben absolut nichts zu tuen. Behinderungen, Handicaps oder wie auch immer man es nennen mag, haben viele Gesichter. Pflegebedürftigkeit hat viele Gesichter. Wir hier sind nur Eines von vielen. Und alle sind anders.

Zu akzeptieren, zu verstehen, dass wir tatsächlich ein behindertes Kind haben und vor allem, dass das auch erst mal so bleiben wird, war ein Prozess. Ein Prozess, indem vor allem ich gelernt habe, mich von meinen Vorstellungen vom Leben mit „einem behinderten Kind“ zu verabschieden.

Während der Schwangerschaft hab ich noch gesagt:“ Zusätzlich zu diesem ganzen Patchworkkram noch ein behindertes Kind? Never. Unser Boot ist voll. Ein behindertes Kind brauchen wir jetzt nicht on top noch oben drauf. Wir haben genug Probleme und es ist schon schwer genug.“ – Drei Jahre später kann ich sagen, etwas Besseres als dieses Kind und was es aus der Zeit, die hinter uns liegt gemacht hat, hätte uns nicht passieren können. Er hat aus uns eine Familie gemacht.

Blicke ich auf die letzten drei Jahre zurück, dann muss ich lächeln. Lächeln über meine Naivität, meine Unwissenheit und über mein offenbar grenzenloses Vertrauen, dass das schon wird. Ich muss lächeln darüber, wie ich mich damals gefreut habe, als die Physiotherapeutin mir sagte, dass der Kleine ungefähr 14 Tage seiner Entwicklung hinterher hinkt. Anfangs. Mittlerweile sind mehr als 14 Monate draus geworden. Ich merke das erste Mal, wie schnell sich doch Babys und Kleinkinder normalerweise entwickeln.

Jetzt, nach drei Jahren bin ich soweit. Ich versuche nichts zu vertuschen, schön zu reden oder totzuschweigen. Meinem jüngsten Sohn wurden viele viele Dinge nicht in die Wiege gelegt, er muss sich jeden Schritt selber erkämpfen und mühsam lernen. Und das braucht Zeit.
Ich habe gelernt, dass ich mein und unser Leben in der Hand habe. Es liegt immer ein Stück weit an einem selber, wie dieses Leben aussieht. Wenn ich sage, dass ich mich mit vielen Dingen abfinden kann, dann heisst das nicht, dass ich es so gut finde wie es ist. Aber ich kann es gut machen. Gut für mich und gut für uns.

Wir leben ganz normal. Klassische Rollenverteilung, Haus, Garten und Hund. Es ist nicht viel anders, als bei anderen Familien. Trotzdem hat man mit einem Kind, welches etwas entfernt von dem was wir Normal nennen aufwächst, Nachteile. Nachteile ist vielleicht das falsche Wort. Aber einen Babysitter zB, den finde ich für ihn nicht unbedingt bei Rewe am schwarzen Brett oder im Bekanntenkreis meiner grossen Kinder. Da braucht es schon jemanden, mit ein bisschen Erste-Hilfe-Erfahrung. Und so zieht sich das durch unser alltägliches Leben. Hochstuhl, Bett, Autositz, Kinderwagen. Alltägliche Dinge haben wir unter anderen Gesichtspunkten gekauft, als bei den anderen Kindern.

Ja, selber gekauft. Für mich war das eben normal. Und so ist es für mich heute noch. Ich versorge mein Kind selber. Einen Pflegedienst haben wir knapp 3 Wochen gehabt, seitdem versorge ich den Kleinen. Sei es das Legen einer Magensonde, die langsame Entwöhnung von der Beatmung, die Entscheidung wann der Monitor aus bleiben konnte, der Weg von der Magensonde zum Butterbrot und bis zum Kleben der Urinbeutel. Zusammen mit meinem Mann, der bei all dem hinter mir steht. Für mich ist das selbstverständlich und ich gebe sehr ungern auch nur irgendetwas davon in fremde Hände. Aber ich hätte gerne erfahrene Hände an meiner Seite (gehabt).

Aber warum dann jetzt der Schritt zum Pflegegrad, zum Schwerbehindertenausweis? Wenn doch alles so selbstverständlich und normal ist? Abgesehen davon, dass der finanzielle Nachteilsausgleich hier sehr willkommen ist, brauche ich es schwarz auf weiss. Es wird Zeit. Drei Jahre sind um. Er hat noch lange nicht alles aufgeholt.

Ich erhoffe mir Ruhe. Ruhe davor, dass man mir versucht immer wieder Mut zu machen mit der Aussage, dass er bald alles aufgeholt hat und dann genauso ist, wie die anderen Kinder. Das ich nur Geduld haben muss. Genau das, kann und will ich nicht mehr hören. Ich will kein Mitleid und brauche keine Motivation. Ich möchte, dass meine Umwelt ihn genauso sieht wie er jetzt ist. Und der Tatsache ins Auge sieht: Ich habe einen kleinen zauberhaften Sohn, der auf seine eigene Art und Weise behindert ist. Und ich möchte Anerkennung, für das was ich tagtäglich hier leiste. Für all die kleinen und grossen Entscheidungen die ich zu verantworten habe, die unglaublichen Ängste die ich ausgehalten habe und bei jedem Fieber, jedem Sturz und jeder anstehenden OP noch aushalten werde.
Montag kommt der Medizinische Dienst zur Begutachtung.

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