Die ersten Jahre
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hat er oder hat er nicht?

Im Dezember 2014 habe ich erfahren, dass das Baby welches ich bekommen werde, nicht gesund zur Welt kommen wird. Wahrscheinlich. Und das erste Mal stand ich so wirklich vor der Frage “ ein behindertes Kind? Kann ich das? Können wir das? Wollen wir das?“

Ich wollte so richtig schön schwanger sein. Mit Yoga und gesundem Essen. Toll aussehen und schon Monate vorher den Babygeruch um mich haben. Eine Schwangerschaft zum geniessen, wie aus dem Bilderbuch, bzw heute sagt man „wie bei Instagram“.
Dass mit dem Baby irgendwas nicht stimmen kann, dass es vielleicht eine Behinderung haben wird oder dass man mir im Laufe der nächsten Wochen mehr wie einmal sagen wird, dass er vielleicht überhaupt nicht leben wird… das hatte ich überhaupt nicht auf dem Schirm. Null.

Es hat mich eiskalt erwischt. Am 5.12.2014. Ich weiss es noch so genau, musste ich doch noch dringend für die anderen Kinder ein paar Kleinigkeiten zu Nikolaus besorgen. Das hab ich auch noch gemacht, mich dann ins Bett gelegt und die Decke über den Kopf gezogen.

Ein behindertes Kind. Das schaffe ich nicht. Das will ich nicht. Diese Patchworkfamilie, die schon so viele Baustellen mit sich gebracht hat, mich soviel Kraft gekostet hat und gerade mal ganz gut läuft, hält die ein behindertes Kind aus? Und was werden die anderen sagen, unsere anderen Kinder? Dem ein oder anderen ist ja immer alles peinlich. Wird ihnen ihr Bruder peinlich sein? Je nachdem wie der Grad seiner Behinderung sein wird, finden sie ihn vielleicht sogar ekelig?

Meine Berührungspunkte Kindern mit Behinderungen gegenüber waren gleich Null. Ich hatte absolut von nichts eine Ahnung. Ausser die leise Vermutung, dass da unglaublich viele Therapien und Förderungen auf mich zukommen und sich mein ganzen Leben nur noch um dieses eine Kind drehen wird. Im Geiste sah ich ich mich in einem Multivan von einem Arzt zum nächsten und von einer Therapie zu nächsten fahren, Anträge ausfüllen und von meinem bisherigen Leben war keine Spur mehr da, nur noch bunte und abwaschbare Kissen um mich rum.

Und der Daddy? Der ja so vollkommen anders mit dem Schicksal umgeht hat auf meine Fragen damals: „Schaffen wir ein behindertes Kind? Wollen wir das? Können wir das?“, nur eine Antwort: „das weiss ich doch nicht.“ – So. Und Punkt. Stimmt, weiss ja niemand vorher, aber so bisschen mehr Gedanken ab und an…hm, mal ein kleines Gespräch so…;-) Bisschen mehr hätte ich mir schon gern gewünscht. Auch wenn die Antwort im Kern vollkommen richtig war und ist.

Und so lagen wir dann unter der Decke, im Dezember 2014, der Kleine in meinem Bauch und ich. Und über der Decke die Diagnosen und Fragezeichen. Aber da drunter, da war ich mir doch so sicher dass das alles nicht sein kann. Aber die Frage, ob ich mir das vorstellen kann mit einem behinderten Kind zu leben, diesmal musste ich mir ernsthaft Gedanken machen. Irgendwann in den nächsten Tagen. Oder Wochen.

Warum mich das heute, nach eineinhalb Jahren mit Kleinen noch beschäftigt? Ich hab nie eine Entscheidung getroffen.  Ich weiss nicht ob ich blind sein möchte, bin oder erfolgreich alles verdränge. Weil ich vielleicht ganz tief vermute, nein eigentlich weiß ich, daß unser kleinster Junge ein Handicap hat. Natürlich hat er das. Alleine die Tatsache dass er extrem früh und leicht zur Welt kam IST ein Handicap. Manchmal sehe ich sein Gesicht im Spiegel und dann ist es so offensichtlich. Und dann doch wieder nicht. Es gibt Tage, da möchte ich alles wissen und testen lassen, google mich durch alle möglichen Syndrome. Mittlerweile könnte jeder Bio Leistungskurs von mir er was lernen.
Und an anderen Tagen, da ist es mir sowas von egal. Da vergesse ich manchmal sogar dass er ein Extremfrüchen ist – bis mir jemand eine „tolle integrative Kindertagesstätte“ empfiehlt.

Die Frage ob wir das alles können, ob wir das schaffen mit so einem besonderen Kind und ob es wirklich so geworden ist, wie ich vermutet habe?
Ich fahre keinen Multivan und fülle nicht den ganzen Tag Anträge aus. Wir haben bisher kein Pflegegeld oder Pflegestufe beantragt, wir haben keinen Behindertenausweis für den Kleinen. Mag sein dass uns das zusteht, wir sind den Schritt nicht gegangen. Das ist kein falscher Stolz oder Scham, aber all das was wir zusätzlich Anfangs hatten, die Magensonde und der Sauerstoff zum Beispiel, war für uns nur vorübergehend. Daran haben wir einfach mal geglaubt. Und mehr Arbeit als ein pubertierendes Kind macht er garantiert nicht, auch fahre ich ihn seltener zu Verabredungen als die anderen Kinder. Kein wirklicher Mehraufwand also.

Es hat sich viel verändert hier bei uns in den letzten eineinhalb Jahren. Der Kleine ist eine Bereicherung für uns alle. Das ist sicher. Die Kinder fragen immer noch viel und machen sich auch Gedanken. Aber es geht ihnen um ihren kleinen Bruder selber und nicht mehr nur um die eigenen Befindlichkeiten oder darum was die Klassenkameraden oder Freunde sagen könnten zu einem Bruder, der ein bisschen anders ist. Er war und ist ihnen nie peinlich gewesen, sie waren von Anfang an sehr stolz und haben geschwärmt und ekelig finden die Jungs nur die vollen Windeln.

Dem Daddy hab ich die Frage, ob wir das schaffen gerade nochmal gestellt. Seine Antwort war: „Na klar.“ – Und dem kann ich nur zustimmen! Mehr noch, mir stellt sich die Frage gar nicht mehr. Ein Blick in die lachenden, ehrlichen Augen von dem kleinen Kerl und man kann alles! Jeder Tag ist wirklich ein Gewinn und ich würde ihn niemals eintauschen wollen. Er ist so wie er ist absolut perfekt für uns.

Was ich Eltern rate, die während der Schwangerschaft eine solche Diagnose erhalten? Die gerade ein kleines Frühchen bekommen haben und nicht wissen was kommt und wohin die Reise geht? Kontakt suchen, reden… mit Eltern die ähnliches erlebt haben. Die auch ein Frühchen haben. Nutzt die Momente wenn ehemalige Frühchen auf Station sind und schaut euch die Kinder an. Ich weiss noch als ich dort lag mit dem Klitzeklein, 500g leicht, auf meiner Brust und kein Ende in Sicht war. Gefühlt wurde damals gerade das 65. Frühchen vor uns entlassen. Da kam ein Mädchen, ca 4 Jahre mit ihrer Mutter und die Schwester hat ihr den Kleinen gezeigt und gesagt: „So klein warst du auch mal“. Ich war in dem Moment so dankbar dieses Mädchen zu sehen. Ein ganz normales, natürlich zierliches, Mädchen und ich hab meinen kleinen Sohn angeschaut und nur gedacht: „dich krieg ich auch noch gross.“

7 Kommentare

  1. Schön schreibst Du! Meine Prä-Eklampsie hatte sich zu einem massiven HELLP Syndrom verschlimmert. Uns beiden ging es schlecht. Meinem „Klein“ (eben nicht klitze – nur klein) geht es heute gut, bald sieht er im Stehen wieviele grauen Haare da an meinem Scheitel spriessen. Mein Mut-Sach-Satz damals: alles geht vorbei. Jedes Fieber. Jede schlaflose Nacht. Jedes „ich kann nicht mehr“. Ich wünsche Dir viel Kraft. Und danke, dass Du den Mut hast, Deine Gedanken zu teilen. Julielovesbeauty.com

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    • Vielen lieben Dank für deine Nachricht! Und ja, alles geht vorbei – egal ob gut oder weniger gut 😉 Wird Zeit den Moment zu geniessen. LG

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  2. Heike sagt

    Hey, Pflegegeld, Schwerbehindertenausweis – das hat alles Zeit! Wir haben das wirklich alles erst beantragt wie mein Sohn 18!!!!! wurde. Und auch da nur, weil es für ihn Erleichterung und Vorteile bringt. Allein der Gedanke wie geht es nach der Schule weiter? Was ist mit Förderung auf dem Weg ins eventuelle Arbeitsleben? Was ist wenn er eines Tages nicht mehr bei uns leben kann oder will? Letztlich und um ehrlich zu sein … ICH habe solange gebraucht um mit dem „Stempel“ umgehen zu können. Ihn so zu sehen, wie die Umwelt ihn sieht und nicht schlicht mit dem Löwenherz einer Mutter ….

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  3. Hi, ich kann deine Gedanken sehr gut nachempfinden. Bei uns und unserem Sohn gibt es im Grunde genommen auch keine Diagnose. Wir wissen, dass er eine Muskelschwäche hat und daraus resultierend eine globale Entwicklungsverzögerung. Er ist 2 1/2 aber mindestens 1 Jahr zurück. Eine richtige Diagnose gibt es nicht. Es gibt Tage da sehe ich ihn an und glaube fest daran, dass er keinen frühkindlichen Hirnschaden hat (die Untersuchung steht noch im Raum) und es gibt Momente wo ich vllt insgeheim weiß, dass es so ist aber das einfach nicht akzeptieren kann und will. Gerade weil ich sehe, was er in der letzten Zeit alles gelernt hat. Als er damals nach seiner Frühgeburt entlassen wurde (nach 10 1/2 Wochen) hieß es, „wir müssen abwarten. Es kann sein, dass er nie alleine sitzen kann o.ä.“ – jetzt kann er Sitzen, Krabbeln und Laufen mit Hilfe über kleinere Strecken. Wer hätte das von den Ärzten schon gedacht? Manchmal fällt es schwer unbekümmert zu sein, wenn man all die Dinge in so kurzer Zeit mit seinem Kind erlebt hat aber dennoch möchte ich auch nichts von all dem missen. Ich habe Menschen kennen gelernt, die ich sonst nie getroffen hätte und man wächst bekanntlich auch mit seinen Aufgaben. Alles Liebe euch weiterhin ❤

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